Interview mit Ann-Christine Lehmann

EU-Lieferkettenrichtlinie: verschärfte Anforderungen und Chancen für Unternehmen

Am 24. April 2024 hat das Europäische Parlament der Corporate Sustainability Due Diligence Directive (CSDDD) zugestimmt, das zuvor vom Rat im März vereinbart wurde. Es wurde jetzt vom EU-Ministerrat formal verabschiedet und muss nun noch im EU-Amtsblatt veröffentlicht werden kann. Danach haben die Mitgliedstaaten zwei Jahre Zeit, um die Richtlinie umzusetzen. Auch das deutsche Lieferkettengesetz muss innerhalb dieser Frist überarbeitet werden.

Ann-Christine Lehmann, Supply-Chain-Expertin bei Lufthansa Industry Solutions, erläutert im Interview, was auf Unternehmen in der EU jetzt zukommt und wie sie sich vorbereiten können.

Berührungspunkte und Unterschiede der Lieferkettengesetze

Der ursprüngliche Entwurf der CSDDD wurde deutlich abgeschwächt. Was sind die wesentlichen Unterschiede zum deutschen Lieferkettengesetz?

Grundsätzlich wurde die Schwelle für betroffene Unternehmen der EU-Richtlinie jetzt erheblich angehoben: von 500 auf 1.000 Beschäftigte, mit einer Übergangsfrist von fünf Jahren. Nach drei Jahren greifen die Vorschriften zunächst nur für Unternehmen mit mehr als 5.000 Mitarbeitenden, bevor sie nach vier Jahren auf Unternehmen mit 3.000 Mitarbeitenden herabgesetzt werden. Das bedeutet, dass in den kommenden Jahren mehr Unternehmen in Deutschland vom deutschen Lieferkettengesetz (LkSG) betroffen sein werden als von der EU-Version. Ein weiterer bedeutender Unterschied betrifft nach wie vor die Haftung. Gemäß deutschem Recht können Unternehmen nicht für Verstöße gegen ihre Sorgfaltspflichten haftbar gemacht werden, während dies in der aktuellen EU-Version möglich ist.

Was genau müssen Unternehmen leisten, um die neuen EU-Richtlinien zu Lieferketten erfüllen zu können?

Die Unternehmen sind dazu verpflichtet, eine umfassende Analyse durchzuführen, um alle negativen Auswirkungen ihrer Tätigkeiten auf Umwelt und Menschenrechte in der gesamten Lieferkette aufzeigen zu können. Dabei spielen Aspekte wie Kinderarbeit, Umweltverschmutzung, Sklaverei und der Verlust der Biodiversität eine entscheidende Rolle. Nach der Identifikation dieser Auswirkungen müssen Unternehmen konkrete Maßnahmen ergreifen, um diese zu verhindern oder zu minimieren. Der Fokus liegt auf der Bewertung von möglichen Einflüssen, gefolgt von gezielten Maßnahmen zur Vorbeugung, Milderung und Beendigung der festgestellten Auswirkungen. Insbesondere im Umweltschutz gehen die mit der CSDDD verbundenen Vorgaben deutlich über das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz hinaus.

Sind Unternehmen sofort haftbar, wenn bei ihnen in der Lieferkette Verstöße vorhanden sind?

Die rechtliche Haftung tritt nicht unmittelbar ein, wenn Verstöße in der Lieferkette vorliegen. Allgemein gilt, dass Unternehmen zunächst die Eintrittswahrscheinlichkeit und Schwere eines möglichen Risikos bewerten müssen, beginnend mit der Analyse der Produktionsländer, um potenzielle Problemstellen zu identifizieren.

Wenn ein Verstoß eingetreten ist, geht es nicht darum, die Zusammenarbeit mit Lieferanten sofort zu beenden, sondern Lösungen zu erarbeiten, sei es durch Schulungen, gemeinsame Maßnahmen oder verstärkte Zusammenarbeit. Sie können beispielsweise Zusicherungen geben, die eine Liefermenge an die Umsetzung bestimmter Maßnahmen binden. Das Ziel ist eine positive Gestaltung der Zusammenarbeit.

Wann muss auch konkret umgesetzt werden, was auf dem Papier festgehalten wird?

Das Gesetz setzt keine konkreten Fristen für die Umsetzung von Maßnahmen, sondern legt eine Bemühenspflicht fest. Unternehmen müssen sich aktiv bemühen, mit Lieferanten zusammenzuarbeiten und zielführende Maßnahmen zu ergreifen. Diese Bemühungen müssen substanziell sein und dokumentiert werden. Im Falle von fehlender Kooperation kann/muss die Zusammenarbeit im Extremfall auch beendet werden.

Unternehmen sollten bereits jetzt ihre Position im Hinblick auf geltende Gesetze überprüfen, insbesondere in Bezug auf das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, das seit diesem Jahr für eine erheblich größere Anzahl von Unternehmen relevant wird als im Vorjahr.

Ann-Christine Lehmann
Supply-Chain-Expertin bei LHIND

Es gibt viele Kritiker, die sich über eine zunehmende Bürokratie beschweren. Kann IT hier tatsächlich helfen?

IT kann dabei helfen, den Aufwand zu minimieren, insbesondere bei der geforderten Transparenz in der Lieferkette. Eine geeignete IT-Lösung ermöglicht die effiziente Sammlung, Verarbeitung und Zusammenstellung großer Datenmengen zu aussagekräftigen Berichten. Dadurch können sämtliche Prozesse der Lieferkette verfolgt und überwacht werden, von der Beschaffung bis zur Abfallentsorgung. Lufthansa Industry Solutions bietet verschiedene Lösungen an, die sich an Größe und Komplexität des Unternehmens und deren Lieferkette orientieren, um ein passendes und individuell zugeschnittenes System zu implementieren. Dabei werden vorhandene Systeme evaluiert und auf eine zukunftssichere Gesamtstrategie geachtet, die auch weitere Nachhaltigkeitsanforderungen wie die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) berücksichtigt.

Was können Unternehmen jetzt schon tun, um sich vorzubereiten?

Unternehmen sollten bereits jetzt ihre Position im Hinblick auf geltende Gesetze überprüfen, insbesondere in Bezug auf das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, das seit diesem Jahr für eine erheblich größere Anzahl von Unternehmen relevant wird als im Vorjahr. Ein umfassendes Verständnis der eigenen Branche und der damit verbundenen Risiken ist von entscheidender Bedeutung, ebenso wie die frühzeitige Umsetzung von Maßnahmen zur Anpassung und Erweiterung der Geschäftsprozesse. Das Lieferkettengesetz bietet nicht nur die Möglichkeit, die Nachhaltigkeit zu fördern, sondern trägt auch zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit angesichts globaler Krisen bei. Unternehmen, die ihre Risiken in den Lieferketten genau kennen und Schwachstellen abbauen, können frühzeitig und gezielt auf Unwägbarkeiten reagieren.

Über Lufthansa Industry Solutions

Lufthansa Industry Solutions ist ein Dienstleistungsunternehmen für IT-Beratung und Systemintegration. Die Lufthansa-Tochter unterstützt ihre Kunden bei der digitalen Transformation ihrer Unternehmen. Die Kundenbasis umfasst sowohl Gesellschaften innerhalb des Lufthansa Konzerns als auch mehr als 300 Unternehmen in unterschiedlichen Branchen. Das Unternehmen mit Hauptsitz in Norderstedt beschäftigt über 2.500 Mitarbeitende an mehreren Niederlassungen in Deutschland, Albanien, der Schweiz und den USA.